Wenn im Supermarkt die Lebkuchen mit den Dominosteinen eine Liäson beginnen und der Spekulatius darum bittet eingepackt zu werden, weiß man, dass der große Tag bevorsteht. Naja, nicht ganz. Dann hat man immernoch ein paar Monate bevor der ganze Spaß wirklich losgeht, aber man kann ja nicht früh genug anfangen den Konsumrausch des Einzelhandels ordentlich anzuheizen. Ein paar Wochen vor Tag X beginnen fleißige Menschen damit, die Straßen zu dekorieren und Plätze in ein Paradies aus Raclette-Käse und Menschenüberfüllung zu verwandeln. Man könnte dann meinen, dass die Bevölkerung nichts besseres zutun hat, als ihren Tag auf sehr (!) belebten, kalten, aber dennoch ansehnlichen Plätzen zu verbringen. Ihr wisst ja bestimmt schon von was ich spreche. Fängt mit W an und hört mit eihnachten auf. Ich kann mich dieses Jahr (dieses Jahr WIRKLICH ganz besonders) nicht entscheiden, ob ich weinen oder in vollkommener Glückseligkeit ausbrechen soll. Ich bin gestresst – positiv und negativ zugleich. Das Absurde an der ganzen Geschichte ist, dass Weihnachten (oder die Tage davor und danach) besinnlich und ruhig sein sollten. Bei mir sieht das irgendwie anders aus. Seit 24 Jahren feiere ich jedes Jahr Weihnachten mit meiner Familie, jedes Jahr bin ich völlig überrascht von dem plötzlichen Countdown zum 24.12. und jedes Jahr spielen sich bestimmte Szenarien in meiner Familie ab, die es wert sind, erzählt zu werden.
Oktober: Mein Großvater legt uns die Geschenkeliste hin. Zur Info: das ist eine Liste in die fein säuberlich eingetragen wird, wer sich was wünscht. Ich kann gerade mal planen, was ich zum Abend essen möchte, wie soll ich jetzt schon wissen, was ich mir zu Weihnachten wünsche?
November: Opa wird schon unruhig – seine Liste solle doch bitte ausgefüllt werden. Meine Oma hingegen saugt das ganze Jahr über jegliche Information auf, die einen Hinweis darauf geben könnte, was ein geeignetes Geschenk wäre und hat meistens schon im Sommer die Weihnachtsgeschenke zusammen oder zumindestens eine Idee davon, was es werden soll. Ich hingegen bin immer noch damit beschäftigt zu verkraften, dass der Winter anfängt und das Jahr bald zu Ende ist – meine kognitive Kapazität ist damit voll ausgelastet.
Anfang Dezember: Die Liste liegt immer noch unausgefüllt in der Küche. Sie hat es mittlerweile vom Esstisch, wo sie die letzten zwei Monate lag, in die Küchenschublade geschafft. Jetzt tritt auch bei meiner Mutter der Tatendrang ein. Unser Wohnzimmer verwandelt sich in ein Orbit aus Tüten, Verpackungsmaterial und Weihnachtskugeln. Wichtig dabei ist, dass sich alle gegenseitig immer wieder versichern, man schenke sich dieses Jahr wirklich nur Kleinigkeiten. Oma droht mit Gesprächsverweigerung, wenn sich an die Abmachung nicht gehalten wird.
Mitte Dezember: Opa ist entsetzt. Die Liste ist weg. (Er weiß noch nicht, dass sie versteckt in der Schublade liegt – unausgefüllt natürlich). Ich mache mir auch so langsam Gedanken darüber, was ich verschenken könnte. Merke aber leider, dass sich sowohl meine Geldvorräte als auch das Zeitfenster drastisch verkleinern.
Die Woche vor Weihnachten: Die Liste ist aufgetaucht. Plötzlich ausgefüllt mit Dingen, die kein Mensch braucht, aber Opa braucht halt eine ausgefüllte Liste. Auf Druck fällt einem ja immer etwas ein. Das Wohnzimmer gleicht dem eines Messis. Meine Mutter fängt an Geschenke einzupacken – leider denkt sie wir wären noch kleine Kinder, die es nicht abwarten können die Geschenke zu sehen und versteckt sie deswegen. Meistens findet sie die Hälfte der Geschenke dann nicht mehr wieder. Oder sie packt sie ein und weiß nicht mehr für wen welches Geschenk war. Oder sie packt einfach die Geschenke, die eigentlich für sie bestimmt sind, für sich selber ein. Oder oder oder…
20. Dezember: Mein Bruder hat jetzt auch plötzlich bemerkt, dass Weihnachten vor der Tür steht (auch für ihn jedes Jahr auf’s Neue eine Überraschung). Das wochenlange Nachdenken über geeignete Geschenke führt bei mir dazu, dass ich sie alle an einem Tag kaufen kann. Ich bin stolz, dass ich dieses Jahr ganze vier Tage vor Heiligabend alle Geschenke beisammen habe.
23. Dezember: Wir bestellen jedes Jahr einen Truthahn, den meine Mutter und Oma liebevoll am 24. zubereiten. Mein Bruder hat genau eine Aufgabe: den Truthahn abholen. Ihr dürft dreimal raten, was er natürlich nicht abgeholt hat. Panik bricht aus. Der Metzger wird angerufen. Zwei Stunden später können alle wieder atmen. Der Truthahn ist sicher bei uns eingetroffen.
24. Dezember – Tag X:
9 Uhr: Meine Oma ruft an, wir sollen doch bitte zu ihr kommen und die Einkäufe abholen. Mein Bruder und ich müssen ca. fünf Mal hin und hergehen. Man könnte meinen, sie hätte für 20 Personen gekocht, dabei sind wir nur zu sechst.
9.30 Uhr: Mein Vater macht sich auf den Weg in die Stadt. Er besorgt seine Geschenke heute. Wieso in Panik ausbrechen, wenn man es auch alles am letzten Tag erledigen kann? Außerdem kauft sowieso meine Mutter 90% der Geschenke ein, gibt sie meinem Vater und der behauptet dann, dass es seine wären.
11 Uhr: Das Messiwohnzimmer verwandelt sich langsam in ein Eldorado an ansehnlichen Geschenken. Wie jedes Jahr hat sich natürlich niemand an die Abmachung gehalten. Meine Oma hat beschlossen doch noch mit uns zu sprechen.
12 Uhr: Drei Generationen (Oma, Mama und ich) stehen in der Küche, um das Festmahl vorzubereiten. Das umfasst eine feine Parmesansuppe in der Vorspeise. Langsam gegarten, mit Orangen befüllten Truthahn an Kartoffelgratin mit tagelang eingekochtem Rotkohl als Hauptgang. Die Nachspeise variiert je nach Gusto – mal ist es ein saftiger Schokoladenkuchen mit flüssigem Kern, mal eine Creme Brulée mit Beerenvariation.
14 Uhr: Mein Vater und mein Bruder sind noch mit der Geschenkeorganisation beschäftigt. Emma geht mit dem Truthahn auf Tuchfüllung – ein zweites Mal bricht Panik aus – der Truthahn kann vor Emma gerettet werden.
Pünktlich um 18.30 Uhr: Alle stehen fein zurecht gemacht im Wohnzimmer und stoßen an. Der Abend beginnt und der Stress ist vergessen. Mein Bruder (16) und ich (24) müssen auch jetzt noch Gedichte vortragen. Ich konnte mittlerweile alle mit berührenden Reden überzeugen. Mein Bruder ist bei den Gedichten geblieben (zwischendurch musste er auch mal singen). Letztes Jahr konnten wir unsere Großeltern und Eltern auch davon überzeugen, dass wir uns nicht mehr im Dunkeln in der Küche verstecken müssen, weil „der Weihnachtsmann kommt“. Das werden wir dann aber wieder einführen, sobald die Familie wieder Zuwachs bekommt. Nach einer Essorgie beginnt die Geschenkeorgie und wie das nach so Orgien ist, fallen danach alle glücklich und zufrieden ins nachweihnachtliche Koma.
Weihnachten ist eine besondere Zeit im Jahr. Auch wenn es sich vielleicht nicht so anhört, genieße ich das Chaos, den Geschenkemarathon, das blanke Bankkonto und die überfüllten Straßen. Weihnachten bedeutet Zeit mit der Familie und die wird, je älter ich werde, immer besonderer. Ich möchte nicht, dass mein Weihnachten jemals anders ist als so. Vielleicht war, wie Opa Hoppenstedt aka Loriot so schön sagte, früher mal mehr Lametta. Die Liebe ist aber gleich geblieben.