Letztens hat mir mein kleiner sechsjähriger Bruder, als ich ihn abends ins Bett brachte und das Licht bereits aus war, von Mädchen aus seiner Grundschule erzählt. Sie sind älter als er, schon in der vierten Klasse, und scheinen ihn ziemlich süß zu finden. Jedenfalls war er ganz stolz, als er mir berichtete, dass sie in den Pausen mit ihm spielen und er manchmal sogar mit ihnen Händchen hält. Ich habe ihn daraufhin irgendetwas über diese Mädchen gefragt, ich weiß schon selber nicht mehr genau was, und dann hat er gesagt: „Ich habe die wirklich lieb.“ Kurz hielt er inne. „Aber nicht so lieb wie dich. Du bist ja meine Schwester, und Geschwister sind das allerwichtigste auf der Welt, weil die sind für immer da.“
Gut, dass es zu diesem Zeitpunkt schon dunkel in seinem Zimmer war und er nicht sehen konnte, dass mir sofort Tränen in die Augen gestiegen waren.
Dieser sehr rührende Moment machte mir plötzlich bewusst, wie unfassbar dankbar und glücklich ich sein kann, dass ich eine große Schwester bin.
Ich bin die ersten sieben Jahre meines Lebens Einzelkind gewesen. Und ich will an dieser Stelle nicht lügen; das war schon eine ziemlich coole Zeit. Meine Eltern waren komplett auf mich fixiert, wir haben super viel unternommen und ich durfte immer bestimmen, wohin es ging. Ich wurde mit Liebe überschüttet und war die absolute Nummer eins. Ich glaube, ich habe mir damals nicht mal aktiv eine Schwester oder einen Bruder gewünscht, ich war wahrscheinlich ganz zufrieden mit meiner Situation, so wie sie war.
Aber als meine Mama dann schwanger wurde mit meiner Schwester, spürte ich intuitiv, dass sie das Beste war, was mir passieren konnte. Keine Sekunde war ich eifersüchtig, im Gegenteil. Irgendwie wächst man sehr schnell in diese neue Schwesternrolle hinein, es war plötzlich so, als wäre sie schon immer da gewesen.
Meine Schwester ist meine beste Freundin, Seelenverwandte und meine engste Vertraute. Kein Mensch weiß so viel über mich, wie sie. Auch wenn sie sieben Jahre jünger ist als ich, bin ich ihr so nah, als wären wir Zwillinge. Wir haben definitiv schon einiges miteinander erlebt und durchgemacht.
Gerade durch unseren Altersunterschied fühlte ich mich immer ziemlich verantwortlich für sie, bis heute, und das ist etwas, das wohl jedes große Geschwisterkind kennt – diesen Beschützerinstinkt und die ständige Sorge, ob denn auch alles gut läuft bei dem jüngeren Geschwisterkind. Gerade durch die Trennung unserer Eltern hat sich dieses Gefühl verstärkt. Ich wollte meine kleine Schwester immer vor allem beschützen und bewahren und das, obwohl sie von uns beiden mit Abstand die „Coolere“ ist.
Letztlich führte die Trennung meiner Eltern dann aber auch dazu, dass ich noch dreimal große Schwester wurde, etwas, womit mein siebenjähriges Ich damals wohl nie gerechnet hätte. Vom Einzelkind zur vierfachen Schwester – verrückt.
Verrückt, aber vor allem ziemlich cool. Ich bin mit 18, 22 und zuletzt 24 Jahren Schwester von drei wunderbaren Jungs geworden und würde sie für nichts in der Welt hergeben. Wir haben denselben Vater, die Tatsache, dass sie dadurch „nur“ meine Halbbrüder sind, ist komplett irrelevant für mich und macht absolut keinen Unterschied in meiner Liebe für sie.
Ihre große Schwester zu sein erfüllt mich mit purem Stolz und bedeutet vor allem, dass ich das große Glück habe, sie alle drei groß werden zu sehen; dabei gewesen zu sein, als sie ihre ersten Schritte gemacht haben und später dann an meiner Hand liefen, ihnen vorgelesen und sie gewickelt zu haben, mit ihnen auf dem Spielplatz gewesen zu sein, sie von der Kita abgeholt zu haben und zu merken, dass sie zu mir aufschauen und mich manchmal vielleicht sogar als Vorbild sehen. Und dass ich durch sie selber irgendwie auch noch ein bisschen Kind bleiben kann.
Als große Schwester stellt man die Weichen für alle Geschwister, die noch folgen. Man geht Wege zuerst, man kommt als erste in die Pubertät, vor der die Eltern so Angst haben. Man kommt vielleicht als erste abends zu spät nach Hause (ich glaube in meinem Fall war das meine kleine Schwester, nicht ich), man hat als erste Liebeskummer, fährt als erste ohne die Familie in den Urlaub und stellt als erste einen Partner zu Hause vor. Mit den Erstgeborenen wird im Zweifelsfall vielleicht am strengsten umgegangen, auf jeden Fall aber ist man diejenige, bei der die „guten Erziehungsvorsätze“ der Eltern am längsten durchgezogen wurden (ich habe mein erstes Gummibärchen mit 3 Jahren gegessen!!!!). Letztlich ist man ein Erziehungs-Versuchskaninchen, schließlich haben Eltern das vorher ja alles auch noch nie gemacht.
Innerhalb des Geschwistergefüges ist man gleichzeitig die, die alles zusammenhält, die wenn‘s hart auf hart kommt, die Richtung angeben muss. Die vielleicht für die Rechte der Kleineren kämpft, für sie einsteht oder auch mal mit ihnen schimpft. Und man ist die, die Geheimnisse anvertraut bekommt, die die Eltern nicht wissen dürfen. Gleichzeitig ist man aber schon groß genug, um Ratschläge zu geben und die Kleineren vielleicht vor den Fehlern zu bewahren, die man selber mal gemacht hat. Das ist bestimmt alles nicht immer einfach, bringt aber auch viel Gutes mit sich, weil man schnell und früh lernt, selbstständig und verantwortungsbewusst zu handeln.
Wenn ich mit all‘ meinen Geschwistern an einem Tisch sitze und sie anschaue, muss ich jedes Mal schmunzeln. Wir geben ein lustiges und verrücktes Bild ab: einer ist frisch eingeschult, der andere geht in die Kita, einer ist noch ein Baby, eine macht nächstes Jahr Abitur und ich… ich werde bald 25 Jahre alt.
Und trotzdem: spüre ich nirgendwo so ein großes Gefühl von Zugehörigkeit und Zusammenhalt wie bei ihnen, bei meinen Geschwistern.
An dem Abend, als ich bei meinem Bruder im Zimmer saß und ihn ins Bett brachte, habe ich ihm geantwortet, dass er Recht hat, dass ich immer für ihn da sein werde, er auch das allerwichtigste für mich ist und ich ihn für immer lieb haben werde.
„Okay“, hat er erwidert „ja, ich dich auch. Aber jetzt möchte ich wieder über die Mädchen aus meiner Schule reden.“